„Das Copyright liegt bei Erdoğan“

Insgesamt 368 Tage musste der Welt-Reporter Deniz Yücel zu Unrecht im Gefängnis verharren, bevor er am 16. Februar 2018 freigelassen wurde. Nun hat Yücel am 10. Oktober 2019 sein neues Werk „Agentterrorist“ veröffentlicht und dieses noch am selben Tag im Rostocker Literaturhaus vorgestellt.

Quelle: pixabay.com

Ich wollte nie zum Posterboy der Pressefreiheit werden.

Das stellte Deniz Yücel bei der Lesung aus seinem neu erschienenen Werk Agentterrorist am 10. Oktober 2019 im Rostocker Literaturhaus unmissverständlich klar. Der Hashtag #freedeniz ist den meisten Menschen noch präsent, ging er doch vor etwa zwei Jahren um den Globus als Zeichen des Protests gegen die unrechtmäßige Verhaftung des Journalisten. Dabei fing alles an wie in einem Traum: Yücel sollte sich als neuer Türkei-Korrespondent für die Zeitung Die Welt nach Istanbul begeben. Für den Reporter ein aufregendes Angebot, wie er in „Agentterrorist“ schildert.

Istanbul ist ein Sehnsuchtsort, gerade für viele Deutschtürken, die nie dort gelebt haben. Eine aufregende und schöne Stadt – und die einzige der Welt, durch die das Meer fließt […]. Und natürlich ist die Türkei journalistisch hoch interessant – eng mit Deutschland verwoben, mal brutal, mal rührend, oft verrückt und immer für eine Überraschung gut.

Eine solche Überraschung sollte der Korrespondent dann bald auch am eigenen Leib erfahren. Im Dezember 2016 spielten Hacker von der in der Türkei als Terrororganisation geführten Gruppe RedHack Yücel ungefragt geleakte E-Mails zu. Diese E-Mails stammten von dem Privataccount von Berat Albayrak, dem damaligen Energieminister und Schwiegersohn des türkischen Staatsoberhaupts Recep Tayyip Erdoğan. Yücel verfasste in der Folge zwei Artikel darüber für Die Welt, ohne jedoch seinen eigenen Zugang zu den E-Mails bekanntzugeben. Die türkische Regierung hatte daraufhin am 25. Dezember 2016 Haftbefehl gegen Deniz Yücel erlassen. Der Vorwurf: „Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung“. Doch wie Yücel in seinen Erzählungen im Rostocker Literaturhaus zu verstehen gab, dauerte es noch eine Weile, bis er tatsächlich ins Gefängnis kam, hatte er sich doch für einige Wochen im deutschen Konsulat versteckt. Er selbst war es, der – entgegen dem Ratschlag der Bundesregierung – entschied, sich einer Befragung der Polizei zu unterziehen. Anschließend erfolgte die Verhaftung. 368 Tage musste Yücel in einem Gefängnis in Silviri zubringen, dem einzigen Hochsicherheitstrakt in der Türkei.

Die Wärter sagten des Öfteren, wir sind ein VIP-Gefängnis.

Und in diesem Gefängnis, so erzählte Yücel während der Buchvorstellung in Rostock weiter, heiratete der Reporter seine Partnerin Dilek Mayatürk. Nur auf diesem Wege war es den beiden möglich, sich überhaupt zu sehen, da in dem Gefängnis in Silviri ausschließlich Besuche von Verwandten ersten Grades erlaubt waren. Darüber hinaus sprach Yücel über seine Haft und über andere Insassen, mit denen er zum Teil Freundschaften geschlossen hatte. Seiner Tätigkeit als Journalist und Korrespondent blieb Yücel weiterhin treu, denn – so betonte er immer wieder – er „war ja nicht zum Spaß da“. So führte der Reporter Interviews, recherchierte und veröffentlichte heimlich aus dem Gefängnis heraus Artikel in der Welt. Dafür musste er sich einiges einfallen lassen, um an Stift und Papier zu kommen und die geschriebenen Texte an den Wachen vorbei in die Außenwelt zu schmuggeln. Yücel berichtete, dass er den notwendigen Stift bei einer medizinischen Untersuchung während eines Moments der Unachtsamkeit entwenden konnte und dass er seine Zeitungsartikel geschickt als vermeintlich offizielle Formbriefe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getarnt hatte. Dabei kam ihm die Sprachbarriere der Gefängnisaufsicht ebenfalls zugute, sodass niemandem auffiel, was Yücel eigentlich verfasst hatte.

Sollte Erdoğan sich bei mir melden, bekommt er seine Anteile.

Das Buch von Deniz Yücel stand am Abend der Lesung gar nicht so sehr im Vordergrund. Vielmehr versuchte er, die politischen Prozesse in der Türkei aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und plastisch an seinem eigenen Schicksal anschaulich zu erklären. Einerseits, so sagte Yücel, sei seine Verhaftung keine außergewöhnliche Sache in der Türkei, schließlich sei die Verhaftung von Journalisten und Systemkritikern dort gewöhnlicher Alltag. Andererseits habe sich der türkische Staatspräsident noch nie so oft über einen inhaftierten Journalisten während eines laufenden Verfahrens geäußert – und sich damit verfassungswidrig verhalten. Bei einer seiner Reden soll Erdoğan das Wort „Agentterrorist“ eigens für Yücel kreiert haben. Der Welt-Reporter scherzte an dem Abend seiner Lesung in Rostock, dass das Copyright für das Buch damit eigentlich bei Erdoğan liege.

Auf eines machte Yücel abschließend noch aufmerksam: Bei all der Aufmerksamkeit, die dem Reporter zurecht gebürt, sollte nicht vergessen werden, dass in der Türkei noch immer Journalist*innen verhaftet werden und im Gefängnis einsitzen und damit das gleiche Unrecht erleiden müssen wie Yücel. Laut Reporter ohne Grenzen sind derzeit 27 Journalist*innen inhaftiert.

Ein Fazit zur Lesung am 10. Oktober 2019 im Rostocker Literaturhaus: Während Yücel auf eine sehr bodenständige und an einigen Stellen auch auf humorvolle Art seine persönlichen Erfahrungen sowie die großen Zusammenhänge in der türkischen Politik schilderte, lauschte das Publikum gebannt den Erzählungen des Welt-Reporters und schmunzelte und lachte bei seinen witzigen Bemerkungen. Obwohl der Abend länger ging als vorher programmlich angekündigt, so war es doch eine kurzweilige Veranstaltung in dem gänzlich gefüllten Literaturhaus.

 

Unser Redakteur Lukas Hochleitner war bei der Lesung am 11. Oktober im Literaturhaus. Hier noch einmal zum Nachhören:

 

*Das Buch „Agentterrorist – Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie“ von Deniz Yücel ist am 10. Oktober 2019 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

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